Circular Talk mit Marte Hentschel, Co-CEO von VORN – The Berlin Fashion Hub

«Nachhaltige Produkte müssen die beste und attraktivste Option sein.»

Vom Yarn-to-Yarn-Recycling bis zur Implementierung von Künstlicher Intelligenz – Marte Hentschel, Expertin und Professorin für nachhaltige Mode und Co-CEO von VORN – The Berlin Fashion Hub, treibt ökologische und zirkuläre Technologien von der Idee bis zur industriellen Umsetzung voran. Im Circular Talk spricht die Berlinerin über digitale Innovation und politische Weichenstellungen für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft in der Bekleidungsbranche.

 

CLIMATEX: Marte, du bist seit vielen Jahren eine feste Grösse in der nachhaltigen Modeszene und kennst die Branche aus verschiedenen Perspektiven. Was bewegt dich aktuell?

Marte Hentschel: Als Professorin bilde ich die nächste Generation von Designschaffenden im Bereich nachhaltiger Mode und Design aus. Und als Mit-Geschäftsführerin von VORN – einem Hub für nachhaltige Innovationen in der Mode- und Textilwirtschaft – forsche ich mit unserem Team an Lösungen für die zirkuläre Transformation der Branche. Seit 2022 dient VORN als Plattform, um marktreife Technologien zu entwickeln und zu pilotieren – in Kooperation mit zahlreichen Stakeholdern aus allen Stufen der textilen Wertschöpfungskette. Seit März dieses Jahres bietet unsere neue Microfactory «Shift» Start-ups und Forschenden die Möglichkeit, gemeinsam Innovationen bis zur Industriereife zu bringen. Unsere kleine Demonstrationsfabrik soll zeigen, wie solche Prozesse auf industrielle Massstäbe skaliert werden können.

Was gibt es Spannendes aus eurem im März eröffneten Lab zu berichten?

Eine echte Innovation ist unser Yarn-to-Yarn-Recycling, das eine der grossen Hürden der Modeindustrie, die Nicht-Recyclingfähigkeit von Mischfasern, überwindet. Unser Verfahren unterscheidet sich vom herkömmlichen Garment-to-Garment-Recycling, denn wir schreddern die Textilien nicht, sondern trennen diese in einem ersten Schritt auf, um das Garn zurückzugewinnen, ohne Zerkleinern der Textilien. In einem zweiten Schritt werden diese aufbereitet und neu verstrickt. Unabhängig von der Materialzusammensetzung kann das Garn mechanisch abgewickelt und mehrfach wiederverstrickt werden – ohne Beimischung von Virgin Fibres. So sparen wir bis zu acht Prozessstufen ein und vermeiden Materialverluste. Das macht den Prozess besonders ressourcenschonend und nachhaltig. Um hochwertige Rezyklate herzustellen, sind allerdings Fasereigenschaften, Veredelung und die schonende Nutzung durch Endverbrauchende von grosser Bedeutung.

 

«Es reicht nicht aus, nur auf politische Entscheide zu warten. Es braucht eine starke Lobby, die das Thema vorantreibt und dafür sorgt, dass klare und einheitliche Regelungen geschaffen werden.»

Marte Hentschel,
Co-CEO VORN – The Berlin Fashion Hub und Professorin

 

Kreislaufwirtschaft ist selbst für erfahrene Textiler:innen oft komplex und überfordernd. Ihr wollt das ändern – wie?

Eine grosse Herausforderung für die Kreislaufwirtschaft besteht darin, dass rund 80 Prozent des ökologischen Fussabdrucks eines Produkts bereits in der Designphase festgelegt werden. Designschaffende benötigen deshalb die notwendigen Werkzeuge, um zirkuläre Produkte zu entwickeln. Wir unterstützen mit Lösungen, die helfen, langlebige und hochwertige Produkte zu entwerfen, die wirtschaftlich sinnvoll recycelt werden können. Da die Material- und Produktqualität in den letzten Jahren aber stark abgenommen hat, ist Qualitätsverlust heute eine grosse Herausforderung. Immer weniger Secondhand-Kleidung kann tatsächlich weiterverkauft werden, so dass das Sammeln, Sortieren und Recyceln von Textilien zunehmend unrentabel wird. Wir müssen die Hersteller befähigen, ihre Produkte von Anfang an so zu gestalten, dass sie später im Kreislauf bleiben können.

Die Herausforderungen sind also systemischer Natur?

Genau. Keine Organisation kann diese Transformation allein bewältigen. Der Wandel zur Kreislaufwirtschaft erfordert Kooperation auf allen Ebenen. Unklare politische Rahmenbedingungen bremsen Unternehmen jedoch aus. Obwohl sie die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten erkennen, zögern sie, da unklar ist, wie Regulierungen wie der Digital Product Passport oder das Lieferkettengesetz umgesetzt werden. Diese Unsicherheit belastet die Modebranche und verzögert die dringend benötigten Innovationen.

Es reicht nicht aus, nur auf politische Entscheide zu warten. Es braucht eine starke Lobby, die das Thema vorantreibt und dafür sorgt, dass klare und einheitliche Regelungen geschaffen werden.

Spielt Politik eine Schlüsselrolle?

Definitiv. Unternehmen müssen wissen, was auf sie zukommt, und in welchem Zeitraum sie mit konkreten Anforderungen rechnen können. Was wir derzeit erleben, ist ein Mangel an klaren Aussagen – und das ist ein grosses Risiko. Ein harmonisierter Ansatz wäre von Vorteil, deshalb muss die Branche ihre Stimme erheben und auf eine klare Regulierung drängen. Es reicht nicht aus, nur auf politische Entscheide zu warten. Es braucht eine starke Lobby, die das Thema vorantreibt und dafür sorgt, dass klare und einheitliche Regelungen geschaffen werden. Europa hat eine riesige Chance von dieser Transformation zu profitieren, die Modebranche könnte sich wirtschaftlich konsolidieren und von den Vorteilen einer nachhaltigeren, transparenten Liefer- und Wertschöpfungskette profitieren. Werden die Potenziale richtig genutzt, kann Europa eine führende Rolle in der globalen Modebranche einnehmen.

Stichwort transparentes Lieferkettenmanagement: Welche Herausforderungen gibt es da?

Die Lieferketten sind sehr komplex und Hersteller und Lieferanten stehen unter enormem Druck. Gleichzeitig fehlt es für sie an Anreizen und Unterstützung, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Deshalb sollten Marken enger mit Herstellern zusammenarbeiten und mehr Verantwortung in der Produktentwicklung übernehmen sowie in nachhaltige Infrastruktur investieren. Zudem könnten steuerliche Anreize oder eine reduzierte Mehrwertsteuer nachhaltige Produkte fördern. Aber letztlich müssen auch die Konsument:innen durch politischen Massnahmen angeregt werden – wir können nicht erwarten, dass die Transformation allein durch Vorgaben auf Produktionsseite gelingt.

“Der Wandel zur Kreislaufwirtschaft erfordert Kooperation auf allen Ebenen”, ist Marte Hentschel überzeugt. Die Berlinerin bei der Eröffnung der Microfactory SHIFT im Berlin Fashion Hub Ende März.

Wie kann nachhaltiger Konsum gefördert werden?

Aktuell sind Fast Fashion-Produkte die günstigsten, zugänglichsten und mit den besten Services versehenen Produkte auf dem Markt. Sie sind einfach online zu kaufen, man kann sie zu Hause anzuprobieren und bei Nichtgefallen zurücksenden. Die nachhaltige Alternative hinkt da enorm hinterher. Ein systemischer Ansatz muss sicherstellen, dass nachhaltige Produkte die beste und attraktivste Option für Konsument:innen sind. Das kann nur durch Anreize und die Schaffung von Rahmenbedingungen erreicht werden, die die Vorteile nachhaltiger Produkte klar herausstellen.

Ein systemischer Ansatz muss sicherstellen, dass nachhaltige Produkte die beste und attraktivste Option für Konsumenten sind.

Welche Rolle spielen digitale Technologien und künstliche Intelligenz in dieser Transformation?

Digitale Technologien und KI bieten ein enormes Potenzial für diese komplexe Branche: Automatisierte Prozesse, die Vereinfachung der Datenerhebung und besonders KI-gesteuerte Empfehlungen für Designschaffende können helfen, bewusste und informierte Entscheidungen zu treffen und Materialien sowie Produktionsprozesse nachhaltiger zu gestalten – und mehr nachhaltige Produkte auf den Markt zu bringen. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass KI das Phänomen von Ultra-Fast-Fashion beschleunigen könnte, denn wenn es fast nichts kostet, Produkte zu entwerfen und auf den Markt zu bringen, wird die Menge an Produkten, die in sehr kurzer Zeit produziert und dann schnell wieder entsorgt werden, massiv zunehmen. Deswegen braucht es klare Regulierungen, um sicherzustellen, dass nur Produkte, die gewisse Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, auf den Markt kommen.

In der Microfactory SHIFT können textile Innovationen bis zur Industriereife erarbeitet werden.

Wie steht es denn um die Ausbildung und den Wissensaufbau in Bezug auf nachhaltiges Design?

Da hinkt man hinterher und es fehlt an Flexibilität, um auf neue Anforderungen schnell zu reagieren. Auch ich hatte als Arbeitgeberin oft Schwierigkeiten, gut ausgebildete Fachkräfte zu finden, weshalb ich mich entschieden habe, als Professorin selbst in der Lehre tätig zu werden. Junge Designschaffende müssen lernen, wie sie in verschiedenen Bereichen innerhalb eines Unternehmens nachhaltige Veränderung anstossen können.

Was können Konsument:innen tun, um eine nachhaltigere Modeindustrie zu fördern?

Verbraucher:innen müssen sich der Auswirkungen ihrer Kaufentscheidungen auf Umwelt und Arbeitsbedingungen bewusst werden. Wenn sie ethisch und nachhaltig konsumieren, zwingt das die Branche sich anzupassen und nachhaltigere Lösungen anzubieten. Bei VORN unterstützen wir Designer:innen und Brands dabei, nachhaltige Technologien zu nutzen und Ideen umzusetzen, denn kleine Unternehmen und Innovatoren treiben die Branche mit ihrem Innovationsdrang voran. Doch um ihre Lösungen zu skalieren, ist die Unterstützung grosser Unternehmen wie Zalando entscheidend. Daher freue ich mich sehr auf unseren Showcase zur Berlin Fashion Week 2026, bei dem wir nachhaltige Produkte präsentieren, die in unserer Design Academy mit Zalando entstehen.


vorn-hub.com

 

Für die dritte Ausgabe der Design Academy von VORN – The Berlin Fashion Hub und Zalando wurde CLIMATEX als Materialsponsor angefragt. Als teilnehmendes Unternehmen können junge Designtalente, deren Ziel es ist, die Transformation der Modebranche voranzutreiben, unser innovatives Nähgarn STITCHLOCK für ihre Kollektionen verwenden. Der Schwerpunkt der diesjährigen Design Academy, an der rund 100 Designschaffende teilnehmen, liegt auf Adaptive Fashion, um Menschen mit Behinderungen das Ankleiden zu erleichtern.

Weiter
Weiter

Circular Talk mit Linda Grieder-Kern, Gründerin von RethinkResource